25. Mai 2022
Neulich war's, da traf ich einen Freund. Einen frei schaffenden Fotografen, der mir vom verrückten Covid-Jahr erzählte. Die Aufträge seien sistiert worden – Funkstille, bis auf Weiteres. Dann traf ihn ein Unfall mit dem Fahrrad, in der gleichen Zeit machte das Herz Probleme… ein Kunde, der nicht zahlen wollte und noch andere Schwierigkeiten.
Als wir auseinander gingen, sagte ich ihm: «Alles kann sich sehr schnell ändern. Du fährst jetzt nach Hause. Unterwegs klingelt dein Handy. Ein alter Kunde ruft wieder an, hat einen dicken Auftrag…».
Am gleichen Tag fuhr ich Richtung Zürich, um an einem spannenden Projekt weiter zu arbeiten. Da klingelte das Handy: ein alter Kunde, lange nichts gehört, kam unvermutet mit einem «dicken» Auftrag…
Zwei Figürchen von Sonja Gsell, die ich während der Corona-Zeit in eine quarantäne-konforme Situation brachte © HWR
Ich erinnere mich, dass tatsächlich immer wieder – ob negativ oder positiv – Veränderungen kamen, die im nachhinein irgendwie so kommen mussten. Und ich erinnere mich an Biografie-Aufträge, in denen meine meist älteren Gesprächspartner, ebenfalls ganz außergewöhnliche Geschichten dieser Art erzählten.
Mit Erinnerungen ist das bei mir so eine Sache. Sie kommen meist unvermutet. Manchmal durch Träume aktiviert, manchmal durch Begegnungen. Und manchmal kann ich mich rein gar nicht erinnern, dass diese oder jene Begebenheit mit mir zu tun hatte…
Ein grünes Feld, das wie ein Teppich in der Landschaft liegt. Immer wieder fotografiert, zu allen Jahreszeiten © HWR
Vielleicht ist das mit ein Grund, warum ich mich mehr oder weniger diszipliniert mit Wiederkehrendem befasse. Bäume fotografieren zum Beispiel. Ein Feld zu allen Jahreszeiten – immer das gleiche. Gedichte oder Aphorismen schreiben, Tag für Tag. Es werden in wenigen Wochen 4000 sein.
Erinnern als biografische Notizen aufzuschreiben – um bestenfalls in einem Buch zusammengefasst zu werden –, das ist nach meinen Erfahrungen keine verlorene Zeit. Dass es dann auch Strukturen braucht, wenn tatsächlich ein Buch daraus werden soll, versteht sich von selbst.
Alte Bäume, wie diese Linde in Linn, müssten uns einmal ihre wichtigsten Erinnerungen preisgeben können… © D.Ammann
Jetzt erinnere ich mich gerade an das Wort «neulich». Ein Wort, das mit «neu» kaum zu tun hat. Unsere Zeit, die wir so linear zu fixieren versuchen, hat eigentlich selten durchgehende Konstanz. –
Und wieder genau jetzt, wo ich hier schreibe, erinnere ich mich an mein Gedicht von heute, das vom Ukraine-Krieg angeregt wurde… –
Und kaum eine Sekunde später erinnere mich an ein Bild, das ich kürzlich (oder neulich?) in Aeugst am Albis aufnahm…
In Aeugst am Albis wird derzeit ein ganz spezielles Ausstellungs-Konzept realisiert… © HWR
Das Leben geht vor und zurück, nimmt viele Umwege. In der Erinnerung verknüpfen wir es dann gerne als logischen Zusammenhang. Sozusagen als unsere eigene lineare Geschichte. –
Beim Korrekturenlesen und Überarbeiten dieses Blogs blitzt das Konzert von gestern Abend wieder auf: Jordi Savall mit seinem Ensemble Hespèrion XXI. Die gebannte Stille, die alte Musik, die ewig gültigen Schwingungen… Daraus werden sich neue Erinnerungen gebären.
Erinnerungen sind wie Wolken am Himmel: sie ziehen, vergehen, erscheinen, verändern sich in irgendeiner Zeit © HWR