21. März 2022
Am Weltpoesietag, ja der ist genau heute am 21. März, sollte man eigentlich ein bisschen poetischer sein als sonst. Gut möglich, dass der kleine Waldschrat mir einen Wink geben wollte. Der Knirps ist mir nämlich gestern auf einem Waldweg begegnet. Und nicht nur auf einem Waldweg, sondern auf einem Thron. Der steht am Anfang des Jura – oder am Ende, je nachdem, wo man beginnt.
Der Waldschrat sah ein bisschen erbärmlich aus. Nicht, dass er zerlumpt oder verdreckt gewesen wäre, nein, er war einfach klein. Oder sein Thron war viel zu groß. Je nachdem, was man zuerst sieht.
Der kleine Schrat, keineswegs zottelig, wie er hätte sein sollen. Aber was ist heute noch so, wie es sein sollte? / © H.W.Rodenhausen
Der Thron hatte Initialen: W.S. Das könnte ganz einfach für Wald-Schrat stehen. Die Buchstaben könnten auch Wichtel-Superman heißen. Aber das spielt hier wohl keine Rolle. Wichtiger ist, was mir der Waldschrat sagte. Oder was ich hörte. Je nachdem, was man sich einbildet.
Zuerst sagte er mir, ich solle näher rankommen, damit er nicht so laut zu schreien brauche. Dann erklärte er mir, warum ich ihn hier überhaupt sehe. Denn normalerweise sehe jeder Mensch, der hier vorbeikomme, nur den geschnitzten Thron. Es gäbe sogar Menschen, die hätten sich beinahe auf ihn, den Waldschrat, gesetzt – doch er sei zum Glück ein ganz «diffiger».
Nun muss man wissen, dass «diffig» im Schweizerdeutschen so etwas wie «gewitzt/schnell» bedeutet. Im Schriftdeutschen – falls es das noch gibt – würde tiffig «billig, von schäbiger Qualität» bedeuten. Also, je nachdem, woher man kommt, war er so oder so. – Ich bin mir sicher, er war anders. In jeder Hinsicht.
Wie groß muss ein Thron sein, damit ein kleiner Alleinherrscher wichtig aussieht? / © H.W.Rodenhausen
Denn er schwadronierte davon, dass der Thron, auf dem er säße, völlig angemessen für ihn sei. Er habe nämlich von seinen Ur-Ur-Ur-Schrat-Vorfahren ein großes Reich geerbt. Genau genommen, er habe es nicht erben können, weil andere es ihm weggenommen hätten. Nun säße er hier und warte auf jemanden, der ihn versteht. – So wie ich.
Ich könne doch, meinte er, nicht nur sein Verbündeter werden. Ich könne auch, da ich doch Redenschreiber sei oder so was ähnliches wie ein Ghostwriter, ich könne doch…. – «Bitte, lieber Schrat: falsche Zeit, falsches Anliegen», unterbrach ich ihn hastig. «Ich habe mir gegenwärtig eine Redenschreiber-Abstinenz auferlegt. Es gibt in der Menschenwelt zurzeit zu viele Fake-Schreiber, zu denen ich nicht gehören möchte.»
«Gut, gut, er könne warten» – wenn ich doch in 222 Jahren rasch vorbeikommen könne, dann sei sein Anliegen sowieso wirklich aktuell. – Und damit verschwand er, oder ich sah ihn nicht mehr – je nachdem, wie man es betrachtet.
Genau betrachtet sah das Wesen ziemlich alt aus. Ob er das gleiche von mir dachte? © H.W.Rodenhausen
Beim genauen Hinsehen saß da so ein merkwürdiges «Kuschelpüppchen», das ziemlich alt aussah. Was mir von all dem geblieben ist, ist ein selten erlebter absurder Hang. Ich ging nach Hause, verkroch mich in meiner «Gedichtebauhütte» und schrieb sofort ein Gedicht:
Bin ich grad dieses Ich gewesen?
Wer ist in meinem Körper
Wer ruft hier meinen Namen
Es tanzen tausend Wörter
Und viele andre, die nicht kamen
Dort drüben seh ich jemand gehen
Er sieht genauso aus wie ich
Das müsste ich jetzt klar verstehen
Es wirkt auf mich recht fürchterlich
Der Mann, der mir so gleicht
Er kommt grad auf mich zu
Sieht mich an, und er erbleicht
Ich blicke starr auf meine Schuh
Denn diese Schuhe, auch die Socken
Ich kenn sie nicht, sie sind mir fremd
Der Mann folgt meinem Blick, sagt trocken:
«Sie tragen zudem auch mein Hemd»
Wenn alles wäre wie im Traum
Und ich erwachte leicht verschlafen
Dann könnt ich einfach weiter schaun
Nun aber, da mich alle Sinne strafen
Und sich unsre Blicke irre trafen
Kann ich meinem Leben nicht mehr traun
Das klingt nach esoterischen Legenden
Drum muss ich diese Zeilen schnell beenden
Und dem Mann befehlen, zu verschwinden
Danach mein Schicksal eigenhändig wenden
Um mein altes Ich – wo immer – neu zu finden
Also: ich bin mal kurz weg. Ab morgen wieder unter der alten Nummer 076 417 4000 erreichbar… –
Als ganz normaler Ghostwriter, Biografie- und Buchcoach und Redenschreiber.